Sonntag, 10. April 2016

Rezension : Das verhaßte Alter

Ich bleibe gerne einmal beim Wühltisch unseres kleinen Buchladens stehen.
Dieses "moderne Antiquariat", welches der Ladenbesitzer nebenbei betreibt, bringt die interessantesten Bücher wieder ans Tageslicht: ob alte Stadtführer zu Berliner Ortsteilen, Bildbände klassischer Maler oder auch alte russische Kinderbücher...

Vor einiger Zeit stieß ich nun auf "Das verhaßte Alter" - eine Sammlung an Prosatexten diverser japanischer Autoren, übersetzt aus dem Englischen von Ingrid Rönsch, Monique Humbert und Liane Wagner.
Ich möchte hierbei nur drei Geschichten beleuchten, die mir besonders gefallen haben, ehe ich zu einem Fazit komme.





Leben bei Herrn Tange - Ibuse Masuji

Die Geschichte spielt im Leben des 67jährigen Steuerbeamten Tanges und seines zehn Jahre älteren Dieners. Der Erzähler (und hierbei auch die dritte agierende Person in der Erzählung - ein Sammler aus Tokyo, welcher den Ort aufsucht, um Ausgrabungen von Steingut vorzunehmen) beobachtet, wie Tange seinen Untergebenen wegen schlechten Verhaltens zurechtweist und schließlich zur Arbeit aufbricht.
Aus seinem eigenen "Versteck" auftretend, unterhält sich der Erzähler mit dem Diener und erfährt, dass dieser Tange bereits seit frühen Jahren kennt und es sein Lebensinhalt geworden ist, ihm zu dienen. Zwei Tage später erhält der Diener einen Brief, welchen er dem Erzähler zeigt.
Tange selbst ist neidisch über diese Postsendung und prahlt mit seiner beträchtlichen Anzahl an Neujahrskarten, welche er natürlich als großer Unternehmer erhalten hat.

Der bis dahin namenlose Diener wird nun als Tanishita Eisuke identifiziert. Der Absender des Briefes ist Tanishita Otatsu, seine Ehefrau. Sie lässt wissen, dass über ihren Mann geredet wird und sie so auch von seiner schlechten Dienstbarkeit und seinen Züchtigungen weiß. Eisuke ist niedergeschlagen und geht Bäume fällen, um Aufheiterung zu finden.
Es vergehen zwei Wochen, in denen der Erzähler an seinen Ausgrabungen arbeitet und in denen auch Eisukes Frau angereist kommt. Gemeinsam mit Tange und ihr einen Plausch führend, kommt es schließlich zur Gegenüberstellung Otatsus und Eisukes, die sehr eisig ist. Ihren Mann zurechtweisend, wechseln sie trotz der zweijährigen Abwesenheit voneinander kaum Worte.
Die Ehe der beiden war von Anfang an nicht sehr heimisch, da sie beide aus keinem wohlhabenden Haus kamen und so jeder für sich Arbeit suchen mussten. Sie hatten keine Zeit, sich wirklich kennenzulernen und anzunäheren, was die Distanz und rechte Lieblosigkeit zwischen den beiden erklärt.

1931


Das verhaßte Alter - Niwa Fumio

Die alte Ume, Großmutter von Senko und Ruriko, lebt im Haus Senkos und ihres Mannes Itami. Mit ihren Eigenheiten und beginnender Demenz sorgt sie für viele Turbulenzen. Itami fühlt sich dadurch besonders genervt und empfindet das Zusammenleben als Qual. Obwohl Senko ihre 86jährige Großmutter anfangs gegen seine Launen in Schutz nimmt, wird sie von ihm doch umgestimmt als herauskommt, dass Ume verlauten ließ, dass sie in der Familie verhungere.
Nun soll Ume zu der Schwester Senkos, Sachiko und deren Mann Minobe, in die Berge gebracht werden. Diese Aufgabe muss Ruriko übernehmen. Im Zug trifft sie auf eine andere junge Frau, welche dieselbe Mission hat. Sie finden Gemeinsamkeiten in den Eigenarten der beiden alten Frauen und so auch in ihrer beider Schicksal.
Sachiko wird mit dem Besuch der beiden überrascht und es kommt zu einem Disput zwischen den beiden Schwestern. Der Ehemann Minobe kann sich am schnellsten mit der Situation arrangieren und versucht das Beste draus zu ziehen. Aber auch hier wird schnell klar, dass die alte Frau mehr lästig ist als alles andere: Zu den üblichen Marotten kommt hinzu, dass Ume zu bunkern beginnt und Nahrung aus dem Haushalt verschwinden lässt.
Minobe findet allerdings den guten Kern in der so gehässig wirkenden Frau wieder, als er ihr ein Foto ihrer verstorbenen Tochter zeigt, welche sie so vermisst. Für einen kurzen Moment trägt sie einen klaren Moment. Auch Ume ist ein Opfer des Alters war und tat bisheriges nichts mit böser Absicht.

1947


Agui, das Himmelsungeheuter - Oe Kenzaburo

Der achtzehnjährige namenlose junge Mann ist auf der Suche nach einer Beschäftigung, welche er neben dem College absolvieren kann. Sein Onkel macht ihn mit dem Bankdirektor bekannt. Dessen Sohn, ein bekannter Komponist, leidet unter Halluzinationen und braucht einen Begleiter um alltägliche Dinge des Lebens zu verrichten.
Sein Dienstherr "D", so von dem Protagonisten genannt, sieht sich selbst als Verrückten an, macht aber alles in allem einen recht normalen und intelligenten Eindruck.Schnell wird dem jungen Mann aber vor Augen geführt, wie sich die Halluzinationen Ds zeigen: Als sie das erste Mal auswärts gehen, blickt D in den Himmel und erklärt seinem Begleiter, dass man "ihn" bei schönem Wetter gut zu sehen bekommt. Bei einem Gespräch mit der Pflegerin erfährt der Protagonist, dass es sich bei dem Wesen um ein dickes Baby in weißem Nachthemd handelt und von D "Agui" genannt wird.
Agui - das sei der Geist des toten Babys seiner damaligen Frau und ihm.
Das Kind war mit einer Geschwulst zur Welt gekommen, welche medizinisch falsch eingeschätzt und ihm somit keine reale Lebenschance ausgerechnet wurde. Überredet von dem Arzt, ließ D das Kind töten. Nachdem allerdings die Wahrheit ans Licht kam, dass es gar nicht hätte sterben müssen, verlor sich D so sehr in Leid, dass er anfing zu halluzinieren.

Die Dienste des jungen Mannes endeten an Heiligabend, als D beim Übergang einer Straße aufschreit und sich zwischen zwei Fahrzeuge wirft. Ob es Selbstmord war? Sollte er D die ganze Zeit nur bei seinem Versuch zu sterben helfen? Oder waren das Hirngespinste?
Erst als er zehn Jahre später von Kindern mit Steinen beworfen und am Auge schwer verwundet wird, scheint der damalige Junge die Schwere der Zeit zu verstehen, die auch D belagert hat und kann fortan diese Schatten hinter sich lassen... der Schatten, ein Agui. Wie viele weitere in seinem eigenen Himmel.

1964


Einschätzung

"Neben der lyrisch verhaltenen Schilderung steht die klinisch-realistische Beobachtung, die subtile, unterkühlte Beschreibung. Erstaunlich unsentimental und mit deutlichen Gespür für Zwischentöne gestalten die Autoren komplizierte psychische Situationen, wobei sie sich der Verletzlichkeit jeder menschlichen Beziehung bewusst sind."
Dieses Vorwort von 1981 entspricht in meinen Augen auch noch der heutigen japanischen Prosa.
Vergleiche ich dieses Buch hier z.B. mit "Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß" (Kawakami Hiromi) oder "Naokos Lächeln" (Murakami Haruki), zeigt sich mir in allen dieser Geschichten die besagte Emotionalität und das Gefühl für zwischenmenschliche Beziehungen.
Erzählungen wie "Agui" oder vergleichsweise die Romane von Yoshimoto Banana sind zumeist jene, welche sich eingehend mit der Psyche des Menschen beschäftigen. Nicht selten sind sie von melancholischer oder gar depressiver Natur und wissen auch den Leser in eine grundlegende Melancholie zu versetzen.
Der westliche Erzählstil ist meist klarer, geradliniger und gleichzeitig zurückhaltender, was das Seelenleben betrifft, während der japanische ins Unterbewusstsein greift, den Leser dazu bringt, sich mit einer der Figuren zu identifizieren und seine eigene Welt in Frage zu stellen.

Man kann meiner Meinung nach bei dieser Art japanischer Geschichten (und auch Filmen) nicht viel Aktivität im Handlungsstrang erwarten. Das Erzählte gleicht meist dem Tempo des Lebens. Wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, dann war es dies aufgrund des Lebens selbst, nicht einer Schreibtechnik oder Autorenlaune wegen. Wenn die Episode wenig Handlung zeigt, so wird dies allerdings aufgrund intensiver (innerer) Auseinandersetzungen der Personen mit sich selbst oder anderen wieder wettgemacht.
Daher mögen sich die von mir hier gesondert gewählten Prosatexte nicht unbedingt spannend lesen, doch überzeugen sie vor allem in Gefühl und den Worten, welche zwischen den Zeilen stehen.

"Das verhaßte Alter" zeigt dieses in seinen unterschiedlichsten Facetten, Wirkungsweisen und Folgen: Sei es nun die langjährige Beziehung zwischen Diener und Herren oder aber die zur Routine werdende Ehe eines jungen Paares. Sei es der typische Generationskonflikt zwischen Alt und Jung oder gar die Vergänglichkeit des eigenen Lebens.
Man findet in jener Sammlung gewiss keine Antworten auf die Mysterien, welche uns im Laufe der Zeit erwarten, wohl aber viele Situationen, bei denen man denkt: "Das kommt mir bekannt vor!"

Ich bin hierbei sehr dankbar für die gute Übersetzung, die sich sehr fließend lesen und keine Fragen offen lässt: Worte, die mit Bedacht gewählt wurden, um den Charme zu erhalten und in seiner Eigenart zu unterstützen.




Das verhaßte Alter. Erzählungen.
Ibuse Masuji, Niwa Fumio, Yasuoka Shotaro, Oe Kenzaburo, Kono Taeko, Furui Yoshikichi.
Übersetzer: Ingrid Rönsch, Monique Humbert, Liane Wagner

Verlag Volk und Welt Berlin, 194 Seiten
Bestellnummer: 6479408
ASIN: B004DATMPC
Preis: ab 0,55€

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